tl;dr: Ein Kurs im Kloster, um die Lectio Divina zu erlernen. Für mich ein Wendepunkt. Welch ein Wochenende!
Mit dem Lesen habe ich mich nie schwer getan. Sehr gefördert durch meine Mutter, die selber eine Leseratte war, bin ich seit Kindesbeinen hungrig nach Lesestoff. Nun kann man ja verschiedene Bücher lesen, Kriminal- und andere Romane, Weltliteratur, (populär-) wissenschaftliche Fachbücher und vieles mehr. Und man kann auf verschiedene Weise lesen: Man etwas überfliegen, quer lesen oder sich in einen Text versenken. All das habe ich schon getan, je nach Anspruch und Art der Lektüre.
Nur beim Buch der Bücher scheint keine der üblichen Lesevarianten zu funktionieren. Es fiel mir immer sehr schwer, einen (meinen?) Zugang zur Bibel zu finden. Ja, ich habe versucht, darin zu lesen, aber es war letztendlich nie mehr als ein gedankliches Aneinanderreihen von Worten ohne tiefergehendes Verständnis. Für einen Christen ein unbefriedigender Zustand, für einen evangelischen ganz besonders.
Ich glaube nicht an Zufälle. Und so war es sicher auch kein Zufall, der mich am 20. Juni 2019 während des Evangelischen Kirchentags in Dortmund zum Workshop „Einfach verweilen! Lectio Divina und Kontemplation“ geführt hat. Dort habe ich zum ersten Mal von dieser alten mönchischen Art, die Bibel zu lesen, erfahren und durfte sie gleich in Gemeinschaft mit anderen erleben. Ich war mehr als beeindruckt von dem, was ich dort erleben durfte und so hat mich die Lectio Divina nie mehr losgelassen. Das wollte ich auch lernen!
Zuhause habe ich dann wild kreuz und quer recherchiert um herauszufinden, wo ich denn die Lectio Divina lernen könnte. Dann kam Corona und es war erst einmal aus mit Präsenzseminaren. Nun aber doch. Ich stieß auf ein entsprechendes Angebot der Benediktiner in St. Ottilien: Worte aus dem Leben – für das Leben – Gottes Wort für mich.
Für mich passt der Begriff lesen für die Lectio Divina nicht so richtig. Edgar Friedmann hat seinem Buch darüber den Titel gegeben „Die Bibel beten“ und dies bringt es m.E. genau auf den Punkt. Man nähert sich dem Text nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.
Die Vorgehensweise erfolgt in vier Schritten nach einer Einstimmung durch ein Gebet oder durch ein Lied:
- Lectio: Lautes Lesen des nicht zu langen Textes. Nicht zu schnell, damit man die gelesen Worte noch nachhallen lassen kann.
- Meditatio: Innerliche Betrachtung des Textes. Was hat mich „angesprungen“, über welches Wort bin ich „gestolpert“?
Ruminatio: „Wiederkäuen“ dieser besonderen Worte. - Oratio: Ich frage mich, was der Text mit mit mir und meinem Leben zu tun hat. Ich bringe die Dinge vor Gott und es entsteht ein Gebet.
- Contemplatio: Einfach da sein in der Gegenwart Gottes. Das Erspüren seiner Gegenwart kann man nicht erzwingen, man darf sie erhoffen.
Geübt haben wir diese Schritte unter Anleitung von Bruder Thomas und Bruder Markus in der Gruppe, das macht das Einüben der Schritte etwas einfacher. Gelesen haben wir Offenbarung 21,1-5a nach der Methode Bludesch und Johannes 13-33a.34-35 nach der 7-Stufen-Methode.
Die TeilnehmerInnen am Kurs waren eingeladen, an den Gebeten der Mönche in der Klosterkirche teilzunehmen. Dort wurden die behandelten Texte ebenfalls gelesen und behandelt. Und tatsächlich konnte ich während Vigil, Laudes und Konventamt in einer meditativen Stimmung der Bedeutung der Texte für mich noch einmal nachspüren.
Eine wertvolle Ergänzung zum Kurs und für sich schon ein Erlebnis.
Danke an Br. Markus und Br. Thomas für die achtsame und empathische Begleitung. Danke auch an die anderen TeilnehmerInnen, die für einen geschützten Raum für den Austausch gesorgt haben. Danke, Sr. M. Johanna für den gemeinsamen Abendspaziergang.
Was 2019 in Dortmund begonnen hat, hat 2022 in St. Ottilien eine logische Fortsetzung gefunden. Für mich war der Kurs eine Offenbarung, nicht mehr und nicht weniger. In Dortmund schilderte ich seinerzeit Sr. Nicola Maria, der Leiterin des Workshops, meinen Frust über die Schwierigkeit, überhaupt einen Zugang zur Bibel zu finden. Sie gab mir mit auf den Weg: „Haben Sie Geduld. Die Zeit wird kommen und dann finden Sie den Zugang von ganz alleine.“
Wie recht sie hatte!

Wenn Sie noch ein wenig mehr zur Lectio Divina wissen möchten, hier ein paar Lesetipps:
- Das katholische Bibelwerk betreibt eine eigene Website zur Lectio Divina. Dort finden Sie auch Hinweise zu aktuellen Leseprojekten.
- Konstantin Bohnenkamp: Handout Lectio Divina (pdf-Datei) (Kontakt)
- Guigo der Kartäuser: Scala claustralium (pdf-Datei)
- Esther Müller-Vocke: Bachelorarbeit zur Lectio Divina
- Julia-Kathrin Raddek: Lectio divina als meditatives Gottesdienstelement (pdf-Datei)
- N.N.: Lectio Divina – Zusammenfassung
- N.N.: Einführung zur lectio divina
Nachtrag (5. 7. 2022)
Mein Bloggerfreund Frank Hamm war ebenfalls für ein Wochenende zu Gast bei den Benediktinern. Seine Blogbeiträge lauten Vom gerechten Maß – über Regeln, Rituale und das Leben und Das rechte Maß – meine Regeln und Rituale. Sehr lesenswert, finde ich.
1 Gedanke zu „Lesen lernen in St. Ottilien“